John Hattie hat sein neues Buch zur „Visible Learning“-Reihe in Zusammenarbeit mit dem deutschen Visible-Learning-Übersetzer Klaus Zierer verfasst. Der Buchtitel „Kenne deinen Einfluss!“ leitet sich direkt aus Hatties Mantra und Zusammenfassung seines Forschungsprojektes ab – „Know thy impact!“ – das er seit Jahren auf Fortbildungen und Vorträgen versucht, Lehrkräften in aller Welt nahezubringen.
„Visible Learning“ ist John Hatties jahrzehntelange Datensammlung und deren Verdichtung in eine überschaubare Anzahl von Einflussfaktoren für erfolgreiches Lernen. Hatties Verdienst ist bei aller vorgebrachten Kritik jedoch vor allem die verständliche Interpretation seiner Daten in einer für Schulpraktiker und Entscheidungsträger zugänglichen „Story“. Wer einmal erlebt hat, wie Hattie ein trockenes Excel-Diagramm vor hunderten Zuhörern in eine mitreißende Geschichte verwandelt, der weiß, wie Storytelling im besten Sinne motivieren und funktionieren kann. „Kenne deinen Einfluss!“, und zwar auf Grundlage von Daten.
Das neue Buch von Hattie und Zierer steht in dieser Storytelling-Tradition und zieht seine Frische und Stärke auch aus interdisziplinären Grenzüberschreitungen. Staubtrockene Daten und populäre Youtube-Videos stehen hier nicht im Widerspruch sondern im Einklang miteinander. Vorwort und Einleitung liefern eine Leseanleitung auf Grundlage der Visible-Learning-Daten: „Lernen lässt sich nicht verhindern“, also lasst uns nach erfolgreichem Lernen fragen und wie man besser sein kann als der Durchschnitt. Laut Hattie und Zierer geht es „um das Verstehen empirischer Daten mit dem Ziel, sie für die Unterrichtspraxis fruchtbar zu machen.“
Doch Daten bilden nur das Fundament auf dem alles weitere fußt, insbesondere der Einfluss bzw. Impact, den bestimmte Lehrpersonen auf Lernende haben können. Als Lesebrille nutzen die Autoren Simon Sineks populäres TED-Video „How great leaders inspire action„. Sineks Botschaft lautet, nicht mit dem „Was“ zu beginnen, auch nicht mit dem „Wie“, sondern mit dem „Warum“. Diesen Ansatz übertragen die Autoren auf die Unterrichtspraxis. Um andere zu inspirieren braucht man eine Vision oder wie Sinek überspitzt formuliert: Martin Luther King habe schließlich einen Traum und keinen Plan gehabt – „I have a dream“ statt „I have a plan“.
Auch für erfolgreiche Lernsprozesse braucht es Träume, Leidenschaft und Begeisterung, die Hattie schon früher als Mind Frames bzw. Grundhaltungen erfolgreicher Lehrpersonen zusammengefasst hat. Diese mittlerweile auf zehn Punkte angewachsene Liste an Grundhaltungen bildet auch den Leitfaden für die Grundstruktur des Buches. Jedes der zehn Kapitel expliziert eine der folgenden Haltungen:
- Rede über Lernen, nicht über Lehren!
- Setze die Herausforderung!
- Betrachte Lernen als harte Arbeit!
- Entwickle positive Beziehungen!
- Verwende Dialog statt Monolog!
- Informiere alle über die Sprache der Bildung!
- Sieh dich als Veränderungsagent!
- Gib und fordere Rückmeldung!
- Erachte Schülerleistungen als eine Rückmeldung für dich über dich!
- Kooperiere mit anderen Lehrpersonen!
In den einzelnen Kapiteln versuchen die Autoren ein durchaus spannendes, selbsreferentielles Experiment, indem sie Erkenntnisse über erfolgreiche Lernprozesse nicht nur im Inhalt sondern auch in der Form des Buches widerpiegeln: Vorwissen aktivieren; Können und Wissen zusammen mit Wollen und Werten betrachten; Fallbeispiele aus der Lebenswelt nutzen; klare Lernziele formulieren; Handlungsempfehlungen geben; Zusammenfassen um das Gelernte zu sichern und zu wiederholen; bewusstes Üben; Kompetenzen und Haltungen reflektieren. Dieser Ansatz macht ein anderenfalls eventuell unverdauliches Didaktikbuch lehrreich, lesenswert und unterhaltsam.
Bevor am Ende die obligatorische Hattie-Rangliste das Buch beschließt, formulieren die Autoren noch ihre Vision einer Schule der Zukunft. Diese Vision ist wiederum inspiriert von einem populären Video – Taylor Swifts „Shake it off“ – und Jugendlichen, die unermüdlich versuchen, die gezeigten Tanzschritte zu erlernen: mit Anstrengungbereitschaft, Fehlertoleranz, Feedback und Freude. „Warum kann Schule so etwas nicht“ bzw. wie müsste Schule aussehen, um das zu können? Hatties und Zierers „I have a dream“-Moment erstreckt sich als „Wir haben die Vision von einer Schule“-Anapher über fast zwei Seiten. Die Autoren scheuen auch hier nicht den Spagat zwischen Pädagogik und Popkultur, um schließlich Ihre Vision mit dem Titel des Buches abzurunden: „Kenne deinen Einfluss!“
Etwas ärgerlich ist, dass die beiden Co-Autoren ihre Beiträge im Buch nicht namentlich kenntlich machen. Bestimmte Kapitel ließen sich dann kulturell und sprachlich besser einordnen. Für ein Buch, das in der Originalausgabe auf deutsch erschienen ist, hätte man gewiss auf das ein oder andere Ausrufezeichen im Titel oder in den Überschriften verzichten können, die man in einer englisch-deutschen Übersetzung eher verzeiht. Des weiteren hat Hattie mittlerweile eine erweiterte Liste von Einflussfaktoren publiziert, so dass es schade ist, in diesem Buch eine ältere Faktorenliste wiederzufinden. Insbesondere deshalb, weil sich die letzte Grundhaltung „Kooperiere mit anderen Lehrpersonen“ ganz konkret auf einen der neuen Top-Faktoren bezieht („Collective teacher efficacy“).
Das alles tut dem Leseerlebnis von „Kenne deinen Einfluss!“ jedoch keinen Abbruch. Wer bereit ist, sich gemeinsam mit Hattie und Zierer auf diese ungewöhnlich erfrischende Art des Daten-Storytellings einzulassen, erhält ein klar strukturiertes Buch, das theoretisch fundierte Einsichten in Inspirationen für die Unterrichtpraxis überträgt. Auf dem deutschsprachigen Markt ist „Kenne deinen Einfluss!“ derzeit das beste, was man zum Visible-Learning-Projekt lesen kann.
Literatur
Hui!
7.Sie dich als Veränderungsagent! Sieh! (Imperativ)
Schöne Grüße an den redaktionellen Mitarbeiter.
G W
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