Gastbeitrag von Falko Peschel
Die Meta-Meta-Studie des neuseeländischen Wissenschaftlers John Hattie zur Frage „Was ist guter Unterricht?“ beschäftigt seit Erscheinen der englischen Ausgabe 2009 auch in Deutschland Wissenschaftler und Schulexperten – vielleicht auch, weil schnell vom nun offenbarten „heiligen Gral des Unterrichts“ die Rede war.
Dabei war die Diskussion von Hatties Forschungsergebnissen leider oft von rigorosen Vereinfachungen und Zuspitzungen geprägt, die der über 15-jährigen Fleißarbeit des Autors bei der Analyse von mehr als 800 Variablen in über 700 Metastudien (meist aus den 80er und 90er Jahren) mit rund 250 Millionen Lernenden letztendlich nicht gerecht wurden. Mit dem jetzigen Erscheinen des gut lesbaren Buches auf Deutsch bekommt eine breitere Leserschaft die Möglichkeit, die Diskussion wieder sachlich und konstruktiv zu führen.
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Das Problem der Deutungshoheit
Immer, wenn eine Studie erscheint, gibt es schnell eine Vereinnahmung von einer oder mehreren Seiten mit dem Versuch, die Deutungshoheit bzgl. der Interpretation der Ergebnisse für sich zu gewinnen. Man kennt dieses Spiel aus der Politik, wo es mitunter groteske Züge annimmt, wenn ein und dieselbe Studie für sich eigentlich gegenseitig vollkommen ausschließende Ergebnisse herhalten muss. Aber auch gerade in der Pädagogik – und besonders in der Schul- und Unterrichtsforschung – ist man gut darin, Sachverhalte und Ergebnisse so zurechtzubiegen, dass sie zum eigenen, gewünschten Menschen und Weltbild passen. Und davon können sich auch im vorliegenden Fall weder der Autor der Studie, John Hattie, noch der Verfasser dieses Artikels oder andere Rezipienten frei machen.1 Aber trotzdem kann man versuchen, Probleme einer Studie und ihrer Interpretation so darzustellen, dass der Leser sich ein eigenes (letztendlich genauso subjektives) Bild machen kann. Aber das ist dann sein eigenes Bild, mit dem er an sich und seiner Sicht arbeiten kann.
John Hattie hat – und vermutlich nicht unbeabsichtigt – mit seiner Studie den Kritikern eines „Offenen Unterrichts“ insofern eine Steilvorlage geliefert, als er „open versus traditional classes“ (Offenen gegenüber traditionellem Unterricht) als einen eigenen Einzelfaktor in seine Studie aufgenommen hat. Er hat dabei feststellt, dass die Praktizierung eines „Offenen Unterrichts“ an sich keinerlei Aussagen bzgl. einer Veränderung (positiv oder negativ) zulässt. In seinen Präsentationen bittet er die Zuhörer u.a. zwölf Einzelfaktoren – und eben auch sicherlich nicht ganz zufällig2 den des „open classrooms“ – in eine Rangfolge bzgl. ihrer Effektstärke in Bezug auf erfolgreiches Lernen zu bringen (Übersetzung in Anlehnung an Hattie 2013; Ergänzung d. d. V.):
- Akzeleration (Überspringen von Jahrgängen)
- Feedback (Dialogisches Lernen mit dem Lehrer)
- Lehrer-Schüler-Beziehung (personzentrierter Unterricht)
- Lerntechniken (Lernstrategien, „Lernen lernen“)
- Leseförderung (nach Marie Clay für englischsprechende Kinder mit Leseschwäche)
- Kooperatives Lernen (Lernpartner)
- Hausaufgaben
- Individuelle Instruktion (lehrergesteuerte Programme zur Individualisierung)
- Leistungshomogene Klassenbildung (äußere Differenzierung)
- Offene Klassenzimmer/Lehr- und Lernformen (offene Räume, Materialzentrierung, Kleingruppenunterricht)
- Nicht-Versetzung („Sitzenbleiben“)
- Schulwechsel (alle Arten, einschl. Umzug oder Aufsteigen)
Hattie löst das Ranking dann auf. Die Reihenfolge der Einzelfaktoren bleibt bestehen. Den stärksten Effekt in seiner Auswahl hat mit einer Effektstärke3von 0,88 das Überspringen von Jahrgängen bei starken Schülern (im Gegensatz zum Verharren in der alten Gruppe). Die positiven Auswirkungen eines individuellen Lehrerfeedbacks werden durch eine Stärke von 0,73 beschrieben, die Wichtigkeit einer positiven Lehrer-Schüler-Beziehung durch einen Wert von 0,72. Danach nähert er sich bei der Untersuchung verschiedener Strategieelemente und einer speziellen Förderung von durch Leseschwäche gefährdeten Erstklässlern seiner gesetzten Benchmarkgrenze von 0,40 an. Alle anderen Faktoren fallen darunter, sind für ihn also wenig bis unbedeutend oder sogar kontraproduktiv. Von Hausaufgaben mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 0,29 (im Grundschulbereich sehr niedrig, im High-School-Bereich stärker relevant) über individuelle Instruktion und äußere Differenzierung bis hin zum „Offenen Unterricht“, der fast bei 0 liegt. Eher kontraproduktiv mit negativen Effektstärken von -0,16 und -0,34 erscheinen die Faktoren, die eine Veränderung der Sozialgruppe mit sich bringen, wie Sitzenblieben und Schulwechsel.4
Entsprechend titelte der wohl in der Breite aufsehenerregendste Artikel zur Hattie-Studie in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“: „Ich bin superwichtig! Kleine Klassen bringen nichts, offener Unterricht auch nicht. Entscheidend ist: Der Lehrer, die Lehrerin.“ (Spiewak 2013). Der durchaus nicht einseitige Artikel fasst dann auch die Eckpunkte von Hatties Studie folgendermaßen zusammen (Effektstärken ergänzt d.d.V.):
Was schadet:
- Sitzenbleiben (-0,16)
- übermäßiges Fernsehen (-0,18)
- lange Sommerferien (-0,09)
Was nicht schadet, aber auch nicht hilft:
- offener Unterricht (0,01)
- jahrgangsübergreifender Unterricht (0,04)
- Web-basiertes Lehren und Lernen (0,18)
Was nur wenig hilft:
- geringe Klassengröße (0,21)
- finanzielle Ausstattung (0,23)
- entdeckendes Lernen (0,31)
- Hausaufgaben (0,29)
Was mehr hilft:
- regelmäßige Leistungsüberprüfungen (0,34)
- vorschulische Fördermaßnahmen (0,45)
- lehrergeleiteter Unterricht5 (0,59)
- Zusatzangebote für starke Schüler (0,39)
Was richtig hilft:
- Lehrerfeedback (0,73)
- problemlösender Unterricht (0,61)
- fachspezifische Lehrerfortbildung (0,62)
- Programme zur Leseförderung (0,67)
- vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler (0,72) (Spiewak 2013)
Der „Offene Unterricht“ landet bei Hattie auf Platz 133 von 138 und scheint vor dem Hintergrund der umfangreichen Reformbemühungen seit mehr als 40 Jahren den Aufwand nicht Wert. Grundlage für das Ergebnis bei Hattie sind allerdings vier schon lange bekannte angloamerikanische Metaanalysen, die sich auf Untersuchungen frühestens aus den siebziger Jahren beziehen. Die Datenbasis ist also schon weit über 40 Jahre alt und bekannt – und bezieht die ganzen Reformbemühungen und Konzeptentwicklungen mit ihrem Paradigmenwechsel6 von der Unterrichtsmethode hin zur neuen Rollenverteilung seitdem nicht ein (Peschel 2002; 2003; Bohl/Kucharz 2010).
Das Problem der Untersuchungen zum Offenen Unterricht
Das führt uns zum generellen Problem der Meta-Meta-Analyse von Hattie in Bezug auf einzelne Effektstärken. Seine Studie ist auf die Einzelfaktoren bezogen gar nicht mehr so imposant, wie „700 Metastudien mit rund 250 Millionen Lernenden“ zunächst klingt, denn für ein Sechstel der Einzelfaktoren wurde nur eine einzige Metastudie verwendet, für die Hälfte wurden maximal 3 Metastudien herangezogen. Nur ein Zehntel der untersuchten Einzelfaktoren hat ihre Datengrundlage in mehr als 12 Metastudien und es gibt nur 2 untersuchte Faktoren, in die mehr als 17 Metastudien eingeflossen sind. Wenn in diesem Zusammenhang von mehr als 700 Metastudien rund 250 Millionen Lernenden als Datenbasis gesprochen wird, ist das eher irreführend.
Zwei zusätzliche Probleme die u.a. für die Interpretation in Deutschland zu berücksichtigen sind, bestehen einmal darin, dass es sich i.d.R. um angloamerikanische Untersuchungen handelt (überproportional viele aus dem Raum Neuseeland/Australien) und dass es sich oft um von engagierten Lehrern durchgeführte Innovationsstudien handelt, die nicht so einfach auf den Lehrer vor Ort übertragbar sind. Diese haben bei der Durchführung meist positivere Effekte als die, die später in der Breite zu erwarten sind.
Durch den Rückgriff auf Metaanalysen – also Auswertungen, die nicht auf eigenen Erhebungen basieren, sondern vielzählige andere Studien zur Grundlage haben – kann Hatties Datenbasis bei der angesprochenen Fülle zwangsläufig nicht wirklich aktuell sein. Der zeitliche Abstand zwischen der Datenerhebung vor Ort, Fertigstellung der individuellen Studie, Eingang der Studie als eine unter z.T. mehreren Hundert Studien in eine Metaanalyse dauert schon lange – und wird noch einmal dadurch verlängert, dass nun u.U. mehrere Metaanalysen zu einer Meta-Meta-Studie verrechnet werden. Entsprechend bekannt waren die einzelnen Ergebnisse auch schon vorher – allerdings nie so übersichtlich und einheitlich zusammengestellt!
Am Beispiel des Offenen Unterrichts wird klar, was für eine Vielzahl anderer von Hattie isolierter Einzelfaktoren auch gilt: Schon in den Einzelstudien gibt es in der Regel eine beträchtliche Bandbreite von verschiedenen Umsetzungsformen von Offenheit, weil sonst überhaupt keine aussagefähigen Stichproben möglich wären.7 Darüber hinaus werden in der einen Studie u.U. Klassen als „offen“ eingestuft, die in einer anderen Studie noch lange als „traditionell“ eingestuft worden wären. Auch muss gefragt werden, wer die Einteilung überhaupt nach welchen Kriterien vornimmt: Hanke berichtet z.B., dass in ihrer Erhebung keine einzige der vorab erhobenen Selbstzuweisungen der Lehrer zum „offenen“ Unterricht nach Unterrichtsbeobachtungen aufrecht erhalten werden konnte, da es sich entsprechend der vorher festgelegten Kriterien immer um geschlossenen bzw. lehrgangsorientierten Unterricht gehandelt hat (Hanke 2001, 384).
Bedenkt man zusätzlich, dass „Offener Unterricht“ – zumindest in Deutschland – bislang nennenswert nur in der Grundschule vorkommt und auch dort nur in einzelnen Stunden, ergibt sich ein noch schwierigeres Bild: herkömmliche Frontalphasen mit kleinschrittiger Einführung und Einübung werden durch Stillarbeitsphasen mit abzuerledigenden Materialien, Arbeitsblättern oder Wochenplänen ergänzt, die dann die gewünschte Offenheit widerspiegeln sollen. Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings schnell, dass sich diese Umsetzung auf Grund eindimensionaler und geringer Öffnung nur marginal von lehrerzentrierten Unterrichtsformen abhebt und in dieser Form weder lernpsychologisch noch pädagogisch zu begründen ist. Auch Hattie relativiert seine Ergebnisse entsprechend: „In vielen Studien wird festgestellt, dass zwar häufig die Architektur des Klassenzimmers offen ist, aber dies noch lange keine Garantie dafür ist, dass in diesem Klassenzimmer auch die Prinzipien offener Formen des Lehrens Anwendung finden.“ (Hattie 2013, 105).
Dies spiegeln auch Lehrerbefragungen zur Umsetzung von Freier Arbeit oder zur Öffnung des Unterrichts wider: So lassen weniger als 5% der kleinen Positivauswahl der engagierten Lehrer, die ihren Unterricht überhaupt öffnen, mindestens eine Stunde Öffnung pro Tag zu. Dazu kommt, dass nur 1% (!) der Lehrer bei den Kindern überwiegend Aufgaben zulässt, die nicht direkt vom Lehrer vorbereitetet oder eingeführt worden sind (vgl. Brügelmann 2008; Gervé 1997). Das Fazit kann man ruhig so benennen: Lehrer haben eine vollkommen lehrerzentrierte Vorstellung von schülerzentriertem Unterricht.
Aber so kann man nicht messen, welche Unterrichtsform effektiver ist, denn selbst in den offenen Phasen werden die vom Lehrer vorgegebenen Aufgaben und Materialein so erledigt, wie sie vorher eingeführt und eingeübt wurden – von entdeckendem, herausforderndem, selbstreguliertem Lernen keine Spur. Es wird schon auf der Mikroebene nicht das gemessen, was gemessen werden soll, ganz zu schweigen von unterschiedlichen Unterrichtsaspekten, sich überschneidenden Dimensionen und Bewertungsgrundlagen (Prozesse oder Produkte) usw.
In den Metaanalysen werden dann zusätzlich zu verschiedenen Einteilungskriterien in den Einzelstudien auch noch Studien unterschiedlichster Untersuchungsmethoden und -instrumente zusammengefasst. Während der Betreuer der Einzelstudie noch eine Möglichkeit der Dateninterpretation hat, weil er die Probleme bzgl. der Erhebung genau kennt, ist dies bei den verrechneten Daten höchst unterschiedlicher Einzelstudien in der Metaanalyse gar nicht mehr möglich. Das Backgroundwissen über das Zustandekommen der Daten fehlt. In der Meta-Meta-Analyse mehrerer Metaanalysen kann man dann eigentlich gar keine Rückschlüsse auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand mehr ziehen, sie muss schon aus methodischen Gründen zwangsweise Trivialitäten widerspiegeln.
Das liegt auch daran, dass in jeder Untersuchung die höhere Zuverlässigkeit, die man sich durch eine umfangreichere Stichprobe erkauft, die Ausprägungen der einzelnen in Betracht gezogenen Merkmale relativiert, denn es werden zwangsläufig nie die Werte der am effektivsten arbeitenden Klasse dargestellt, sondern nur die durchschnittlichen Ergebnisse. Durch die Mittelung erfolgt immer eine künstliche Abstraktion, die die real vorkommenden Typen vertuscht und zu gravierenden Fehlschlüssen in der Interpretation führen kann – und gerade bei der Meta-Meta-Analyse gilt besonders: durch „mehrmaliges Hochkumulieren entschwindet die ursprüngliche, originale Detail-Empirie zunehmend“ (Terhart 2011, 290). Und dabei haben wir noch nicht über den Einfluss verschiedener Bildungssysteme, Kulturen, Alterskohorten, Sozialverhältnisse, Unterrichtstraditionen gesprochen …
Das ist das generelle Dilemma der Forschung zum Offenen Unterricht. Es fehlt den Bildungsforschern letztendlich die Stichprobe, um verallgemeinerbare Forschungsergebnisse zu erhalten. Schlicht gesagt, wir haben einfach nicht genügen Klassen, die durchgängig so (offen) unterrichtet werden, dass übertragbare Ergebnisse erfasst werden könnten. Alle großen Untersuchungen, die versuchen herauszufinden, was effektiven Unterricht ausmacht, haben als Stichprobe eine Bandbreite vornehmlich lehrerzentriert unterrichteter Klassen, weil es nur diese in der benötigten Menge gibt – und das gilt auch für nahezu alle von Hattie isolierten Faktoren.
Entsprechend werden dann aber nicht Merkmale effektiven Unterrichts untersucht, sondern Merkmale effektiven lehrergesteuerten Unterrichts – sei es in der Form von Frontalunterricht, Unterricht mit Einzel- und Gruppenarbeit oder auch mit einzelnen Elementen offener Unterrichtsgestaltung. Alle in den Untersuchungen beschriebenen bzw. klassifizierten Merkmale von Unterrichtsqualität sind in diesem Zusammenhang zu interpretieren – von der Basis eines geschlossenen, lehrergesteuerten Unterrichts aus. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass dieser Unterricht dann am effektivsten ist, wenn er die eigenen Zielsetzungen bzw. Grundlagen stützt und nicht verletzt. Das heißt dann aber nicht, dass Offener Unterricht nicht effektiv ist, wie Fallstudien mit signifikant überdurchschnittlichen Ergebnissen gerade dieses Konzepts zeigen (Peschel 2003).
Darauf weisen auch die Ergebnisse bei Hattie hin. Betrachtet man die von Hattie in Bezug auf Offenen Unterricht verrechneten Metaanalysen genauer im Original, so stellt man z.B. bei der größten von Giaconia und Hedges fest, dass eine höhere Effektivität des offenen Unterrichts mit der Konsequenz der Berücksichtigung von Dimensionen wie „Selbststeuerung durch das Kind“, „Individualisierung“ etc. einherzugehen scheint. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Offene Unterricht in der landläufigen Umsetzung von einzelnen Stunden Freier Arbeit oder Wochenplanunterricht diesbezüglich eher noch konsequenter gedacht werden muss als weniger.
Die Hattie-Studie: Offenen Unterricht weiterentwickeln
Wie schon oben angedeutet, ist die Interpretation einer Studie in der Regel durch die eigene Sichtweise geprägt, von der sich vermutlich kein Autor wirklich freimachen kann oder will. Es ist schon spannend, wenn man sich einmal die Veröffentlichungen der bekannten Unterrichtsforscher ansieht, die sie vor der Durchführung einer Studie publiziert haben. Subjektiv ergeben sich i.d.R. nur geringe Abweichungen oder Widersprüche zu späteren Ergebnissen – und wenn, dann werden diese so interpretiert, dass es doch wieder stimmt. Auch Hattie, der seine Studie mit dem Ziel veröffentlicht hat, „eine erklärende Geschichte oder Theorie über die Einflüsse auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler zu präsentieren“ (Hattie 2013, 27) kann sich davon nicht freimachen (wie auch der Verf.), was ihm entsprechende Kritik einbringt: „Hattie lässt aber nicht immer nur die Daten sprechen, wie es die orthodoxe Meta-Analyse fordert. Wenn die Daten seiner Vorstellung von gutem Unterricht widersprechen, verfällt selbst er ins Interpretieren.“ (Lind 2013)
Dabei glaubt Hattie unerschütterlich an den gut auszubildenden Lehrer, obwohl er selbst in Vorträgen fragt: „Erinnern Sie sich an die Lehrer, die wirklich wichtig waren zu Ihrer Schulzeit? Wie viele waren es? In der Regel zwei bis drei. Bei insgesamt 40 bis 60 Lehrpersonen während ihrer gesamten Schulzeit haben also nur vier bis sechs Prozent einen bleibenden Eindruck hinterlassen!“ (Boldebuck 2013) Oder er schreibt in seiner Studie: „Wie bereits festgestellt, hat sich die Praxis des Unterrichts im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts wenig geändert“ (Hattie 2013, 6). Interessanterweise setzt Hattie vor diesem desaströsen Ergebnis von rund 95% eher nicht prägenden Lehrpersonen und einer anscheinend vollkommen reformresistenten Schule nicht auf eine andere Form des Unterrichts, sondern auf eine noch bessere Ausbildung – als ob es dieses Bemühen nicht schon seit Jahrzehnten geben würde. Terhart hält das vor dem Hintergrund des ja eher desillusionierenden Ergebnisses der Studie für einen tief amerikanischen Glauben an die immerwährende Erreichbarkeit von Erfolg: „Bei Hattie kommt [die pädagogische Euphorie; Anm. d. V.] in Gestalt eines eher psychologisch fundierten Glaubens an die unendliche Steigerbarkeit des Lernens und die Beförderung des Lernens durch das richtige, gute Lehrerhandeln daher.“ (Terhart 2011, 289)
Entsprechend nutzt Hattie seine Studie, um den von ihm favorisierten und auch gewerbsmäßig innerhalb der Lehrerfortbildung propagierten Unterricht eines „Sichtbaren Lehrens und Lernens“ zu stützen:
„Die größten Effekte auf das Lernen treten dann auf, wenn Lehrpersonen in Bezug auf das Lehren selbst zu Lernenden werden und wenn Lernende zu ihren eigenen Lehrpersonen werden. Wenn Lernende ihre eigenen Lehrpersonen werden, dann zeigen sich bei ihnen diejenigen selbstregulierenden Merkmale, die bei Lernenden besonders erwünscht sind (Selbstbeobachtung, Selbstbewertung, Selbsteinschätzung, Selbstunterrichtung). Es ist also das sichtbare Lehren und Lernen von Lehrpersonen und Lernenden, das den Unterschied ausmacht. […] Je mehr die Lernenden zur Lehrperson werden und je mehr die Lehrperson zum bzw. zur Lernenden wird, desto ertragreicher sind die Outcomes.“ (Hattie 2013, 27; 31)
„Der Fehler, den ich machte, war, in Feedback etwas zu sehen, was die Lehrpersonen den Lernenden geben. […] Erst als ich entdeckt habe, dass Feedback besonders wirksam ist, wenn es der Lehrperson von den Lernenden gegeben wird, begann ich, es besser zu verstehen.“ (Hattie 2013, 206)
Würde diese Beschreibung nicht von einem Verfechter lehrerzentrierten Unterrichts geäußert – das wird von ihm nicht nur in diesen Passagen immer wieder betont, er möchte lieber den „activator“ (Regisseur) als den „facilitator“ (Moderator) -, könnte man sie äußert gut in einem Werk zum Offenen Unterricht finden.
Von daher drängt sich manchmal der Verdacht auf, dass Hattie einfach sehr negative Erfahrungen mit schlechtem Offenen Unterricht gemacht hat (vielleicht bei seinen Söhnen, wie schon oben in der Fußnote angedeutet?) und ihn zusätzlich das reflexionslose Vertreten konstruktivistischen Lernens, das er in der Lehrerausbildung wahrnimmt, dazu gebracht hat, formal eher die entgegengesetzt Rolle einzunehmen (Hattie 2013, 31ff.). Aber kann man sowohl sein Konzept als auch seine Studie nicht auch anders lesen und nutzen?
Wie schon im Zusammenhang mit den Untersuchungen zum Offenen Unterricht geschildert, gibt es i. d. R. eine breite Streuung bei der praktischen Umsetzung unterrichtlicher Konzepte – denn die Praxis vor Ort hängt ja ganz und gar vom einzelnen Lehrer mit einem bestimmten Menschen- und Weltbild ab. Geht man mit diesem Interpretationsspielraum diejenigen von Hatties Einzelfaktoren durch, die eine Effektstärke ≥ 0,40 haben, so bestätigen sehr viele davon genau die didaktische Position, die üblicherweise dem Offenen Unterricht zugesprochen werden – und eben nicht unbedingt dem traditionellen Frontalunterricht8:
- das Berücksichtigen der Lebensumstände, des Entwicklungsstandes, der Entwicklungsstufe des einzelnen Kindes einschließlich eingebauter „Akzeleration“ (jeder arbeitet auf seinem Niveau) und Berücksichtigung von besonderem Förderbedarf,
- eine von positiven Erwartungen, Empathie und Respekt getragene personzentrierte, nicht-etikettierende Lehrer-Schüler-Beziehung
(Rangliste nach Hattie (2013, 142): nondirektiv (!), empathisch, warmherzig, abstraktes Denken fördern, lernermutigend, sich Unterschieden anpassend, authentisch, am Lernenden orientiert),9 - positives Selbstkonzept, Angstreduktion, Konzentration/Ausdauer/Engagement, Motivation
(wichtig nach Hattie (2013, 57f.): das Gefühl Kontrolle über das eigene Lernen zu haben, Autonomie, eigene Ziele, Gruppenfeedback), - Passung von Lernmethoden und Lernstilen, rhythmisiertes (selbstreguliertes) statt geballtem Üben,
- die formative, laufende Evaluation des Lernens durch eine dialogische Feedbackkultur und Selbsteinschätzung (Wo stehe ich/ wo stehst du? Wo will ich/ wo willst du hin?), selbstreguliertes lautes Denken, Klarheit, Fragenstellen/ Fragen des Schülers ernst nehmen und verstehen,
- Förderung der Sozialkompetenz, Klassenzusammenhalt, Kooperation, Peer-Einflüsse (Freundschaften), (informelles) Peer-Tutoring (Kinder lernen von Kindern)
- Kreativitätsförderung, Problemlösen, Lerntechniken, Teile der direkten Instruktion wie Offenlegen von Lernintentionen und Erfolgskriterien, individuelles Lernen, (situativ entstehendes freiwilliges) kompetitives Lernen, Lernen in Kleingruppen, kleinere Schulgröße, Outdoor/Erlebnispädagogik
In dieser Liste wurden neben nicht beeinflussbaren familiären, vorschulischen oder bestimmte Handicaps betreffende Faktoren nur die direkte Instruktion weggelassen, obwohl auch diese im Rahmen von vom Einzelnen oder von der Gruppe gewünschten Lehrerinputs im Offenen Unterricht vorkommen kann – wohlgemerkt auf dieser Basis. Weitere Faktoren wie Strategiebildung, Lese- und Schreibförderung, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzförderung usw. kommen situativ und implizit vor – hier müsste man konkrete Konzepte inzidentellen (beiläufigem) und impliziten (unbewussten) Lernens mit explizitem Lehren vergleichen, diesbezüglich steckt die Forschung erst in den allerersten Anfängen. Sich negativ auswirkende Faktoren wie das Sitzenbleiben werden von je her eher dem traditionellem als dem Offenen Unterricht zugeordnet.
Andere Faktoren wie Offener Unterricht, Freiarbeit, forschendes Lernen, Individualisierung, inklusive Beschulung, jahrgangsübergreife Klassen, Team-Teaching, Klassengröße usw. überraschen zunächst bzgl. der geringeren Effektstärken zwischen 0,01 und 0,32 und verlangen nach einem genaueren Blick, der aber meist schnell aufklärt. Neben der generellen Problematik, Stichproben für durchgängig praktizierte innovative Ansätze zu finden, ist es bei Hatties Ergebnis zum Offenen Unterricht vor allem der Rückgriff auf die ersten Versuche vor über 40 Jahren, bei der Freiarbeit die Ausrichtung auf reine Materialzentrierung. Beim forschenden Lernen mit einer durchschnittlichen Effektstärke von 0,31 gibt es sehr große Varianten von 1,02 (kritisches Denken) bis zu 0,18 (Prozessfertigkeiten) über die Stichproben hinweg, je nachdem, was gemessen wurde. Hier muss u.U. genauer analysiert werden, was in den zugrunde liegenden vier Metaanalysen unter forschendem Lernen verstanden wurde und welche Zielsetzung der Unterricht hatte.
Bei den unter „Individualisierung“ zusammengefassten Metaanalysen geht es um lehrergesteuerte Programme zur Individualisierung, also die irrige Vorstellung, der Lehrer könnte für 26 Schüler „von oben“ individualisieren. Der Offene Unterricht geht hier einen ganz anderen Weg und nimmt die Kinder in die Pflicht, die über eigene Forschungsvorhaben und Eigenproduktionen „von unten“ individualisieren – anders kann es nicht gehen. In diese Richtung muss sich auch die inklusive Schule erst entwickeln, obwohl die positiven Werte mit 0,28 zumindest nicht belanglos sind und einen Hinweis darauf geben, dass für bestimmte, vorher als nicht regelbeschulbar geltende Kinder die inklusive Beschulung Sinn machen kann.
Die geringen Effekte jahrgangsübergreifenden Unterrichts (unabhängig von der Unterrichtsmethode, einschl. anderer Schulorganisation z.B. in Entwicklungsländern) mit 0,04 sollten hingegen gerade vor dem Hintergrund der höheren Anforderung an die Lehrkräfte zu denken geben, wie auch das wenig erforschte Team-Teaching, das u.U. gerade in inklusiv arbeitenden Klassen eine Rolle spielt. Evtl. lassen sich hier auch effektivere Organisationsformen vorstellen. Dies gilt auch für die Klassengröße. Es einfach so, dass ein Lehrer entweder offen oder geschlossen unterrichtet, aber er ändert seinen Unterrichtstil i. d. R. nicht durch eine andere Anzahl der Schüler – entsprechend sind hier auch nicht unbedingt größere Effekte als 0,21 zu erwarten.
Offener Unterricht und moderner Frontalunterricht nähern sich an – vielleicht eine wunderbare Chance …?
Natürlich würde ein Vertreter eines modernen Frontalunterrichts auch einige oder sogar viele der oben genannten positiven Wirkungsfaktoren für sich beanspruchen – und Hattie tut das auch in seinem eigenen Konzept -, aber vor dem Hintergrund, was in den meisten Schulklassen im Land läuft, wirkt das nicht so überzeugend, dass man damit „offen“ oder „geschlossen“ gegeneinander ausspielen kann. Zusätzlich weist Hatties Vorstellung eines „Visible Learnings“ hohe Übereinstimmung mit ansonsten als offen geltenden Konzepten wie z.B. dem Dialogischen Lernen nach Gallin und Ruf (1992) auf (Peschel 2002, 2003).
Man kann also genauso wenig einen wünschenswerten Frontalunterricht schlechtem Offenen Unterricht gegenüberstellen10 wie einen guten Offenen Unterricht schlechtem Frontalunterricht. Aber man kann Hatties Zusammenstellung dazu nutzen, den eigenen Unterricht kritisch zu überprüfen. Mehr kann quantitative Forschung sowieso nie leisten, denn sie gilt nie für das einzelne Kind oder den einzelnen Lehrer. Und unter diesem Aspekt ist auch gerade nicht die durch die Effektstärke herausgehobene Häufung der Mittelwerte interessant, sondern eher die Streuung bzw. die positiven Extremwerte (Brügelmann 2013, 25).
Vermutlich werden dann Anhänger einer „direkten Instruktion“ viele Faktoren finden, mit denen sie nicht nur die Beziehungsebene in der Klasse verbessern können, sondern auch das eigenaktive, selbstregulierte Lernen der Kinder. Und evtl. wird so mancher Vertreter eines Offenen Unterrichts erkennen, dass es gerade die hohe Kunst in diesem Konzept ist, als Erwachsener nicht konturlos und beliebig, sondern authentisch und präsent zu sein 11 – ohne die Rechte des Kindes dabei in Frage zu stellen. Vielleicht müssen sich dabei gerade die Schulreformer die schmerzhafte Frage gefallen lassen, ob sie sich nicht (immerhin seit Sokrates) zu missverständlich ausgedrückt haben: Der Lehrer soll sich im Lernprozess des Kindes überflüssig machen – aber er ist für diesen Lernprozess ganz und gar nicht überflüssig …!
Peschel, Falko: Mr. Hattie und der Offene Unterricht. In: Fragen und Versuche. Heft 144. 06/13. Prinzhöfte (Freinet-Kooperative) 2013, S. 5-12
Über den Autor
Dr. Falko Peschel ist Grundschullehrer und Erziehungswissenschaftler. Schwerpunkte: Theorie und Praxis des Offenen Unterrichts in der Grundschule; Lehraufträge an verschiedenen Universitäten; Mitglied im Kompetenzteam des Landes Nordrhein-Westfalen; Mitglied des Kollegiums der durch den Deutschen Schulpreis bekannten Grundschule Harmonie sowie Gründer und Schulleiter der „Bildungsschule Harzberg“ als Fortbildungseinrichtung für Lehrer sowie als private Ersatzschule im Primarbereich; zahlreiche Veröffentlichungen zu allgemein- und fachdidaktischen Themen der Grundschulpädagogik.
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Literatur:
- Adams, Gary/ Engelmann, Siegfried: Research on direct instruction: 20 years beyond DISTAR. Seattle, WA (Educational Achievement Systems) 1996
- Bennett, Neville: Unterrichtsstile und Lernfortschritt. In: Klewitz, Elard/ Mitzkat, Horst (Hrsg.): Entdeckendes Lernen und offener Unterricht. Braunschweig (Westermann) 1977 (S. 74-78)
- Bohl, Thorsten/ Kuchartz, Diemut: Offener Unterricht heute. Weinheim und Basel (Beltz) 2010
- Boldebuck, Catrin: Der Harry Potter der Pädagogen. 18. April 2013. Download: http://www.stern.de/wissen/mensch/john-hattie-der-harry-potter-der-paedagogen-1999024.html
- Brügelmann, Hans/ Brinkmann, Erika: Öffnung des Anfangsunterrichts. Theoretische Prinzipien, unterrichtspraktische Ideen und empirische Befunde. Arbeitsgruppe Primarstufe/ Universität: Siegen 2008
- Brügelmann, Hans: Die Hattie-Studie: Der heilige Gral der Didaktik? In: Grundschule aktuell. Heft 121. Frankfurt (GSV) 2013
- Einsiedler, Wolfgang: Neue Lern- und Lehrformen in der Grundschule aus empirischer Sicht. In: Olechowski, Richard/ Wolf, Wilhelm (Hrsg.): Die kindgemäße Grundschule. Wien (Jugend und Volk) 1990 (S. 224-236)
- Felten, Michael: Doch, er ist wichtig! Wie gut Kinder lernen, hängt vom Können ihrer Lehrer ab. Der Umbau von Schulstrukturen ist zweitrangig. In: Die Zeit. Heft Nr. 45. Hamburg (Zeitverlag Gerd Bucerius) 2011. Download: http://www.zeit.de/2011/45/C-Lehrer-Studie
- Gallin, Peter/ Ruf, Urs: Sprache und Mathematik. Zürich (Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz) 1990
- Gervé, Friedrich: Freie Arbeit in der Grundschule. Eine praxisbegleitende Fortbildungskonzeption zur Steigerung der Innovationsrate. Dissertation. Karlsruhe 1997
- Giaconia, Rose M./ Hedges, Larry V.: Identifying Features of Effective Open Education. In: Review of Educational Research. Santa Barbara, California (American Educational Research Association) 1982 (S. 579–602)
- Hanke, Petra: Pädagogik und Didaktik des Schriftspracherwerbs in Theorie und Praxis. Auszüge aus der Habilitationsschrift. Universität Köln 2001
- Hattie, John: Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“ besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 2013
- Köller, Olaf: What works best in school? Hatties Befunde zu Effekten von Schul- und Unterrichtsvariablen auf Schulleistungen. Psychologie in Erziehung und Unterricht Heft 1. München (Ernst Reinhardt) 2012 (S. 72-78)
- Kunert, Kristian: Theorie und Praxis des offenen Unterrichts. München (Kösel) 1978
- Lind, Georg: Meta-Analysen als Wegweiser? Zur Rezeption der Studie von Hattie in der Politik. Konstanz 2013. Download: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/pdf/Lind-2013_meta-analysen-als-wegweiser.pdf
- Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept zur Diskussion. Teil I: Allgemeindidaktische Überlegungen. Teil II: Fachdidaktische Überlegungen. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 2002
- Peschel, Falko: Offener Unterricht – Idee, Realität, Perspektive und ein praxiserprobtes Konzept in der Evaluation. Baltmannsweiler (Schneider Verlag) 2003
- Rolff, Hans-Günter: Die Hattie-Studie: Ein Rorschach-Test. In: Pädagogik. Heft 4. Weinheim (Beltz) 2013 (S. 46-49)
- Spiewak, Martin: Ich bin superwichtig! In: Die Zeit. Heft Nr. 2. Hamburg (Zeitverlag Gerd Bucerius) 2013. Download: http://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning
- Steffens, Ulrich/ Höfer, Dieter: Die Hattie-Studie – Forschungsbilanz und Handlungsperspektiven. Wien (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur) 2012. Download: http://www.sqa.at/pluginfile.php/813/course/section/373/hattie_studie.pdf
- Terhart, Ewald: Hat John Hattie tatsächlich den Heiligen Gral der Schul- und Unterrichtsforschung gefunden? Eine Auseinandersetzung mit Visible Learning. In: Keiner, Edwin u.a. (Hrsg.): Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie. Festschrift für Heinz-Elmar Tenorth. Bad Heilbrunn (Klinkhardt) 2011 (S. 277-292).
Fußnoten
- Der bekannte Schulentwicklungsforscher Hans-Günter Rolff bezeichnet die Hattie-Studie sogar als Rorschach-Projektionstest – entsprechend den bekannten in der Psychodiagnostik verwendeten Tintenklecks-Faltbildern, in die der Proband alles hineindeuten kann, was er möchte – und aus denen der Analytiker u.U. alles herauslesen kann, was er möchte. (Rolff 2013, 46) ↩
- Im Kapitel über Offene Lernformen schreibt Hattie, dass seine Jungen in North Carolina auch an einem entsprechenden „Programm“ teilgenommen haben (Hattie 2013, 105). Er betont auch mehrfach seine kritische Haltung zum konstruktivistischen Fundament des Offenen Unterrichts und versteht Konstruktivismus nicht als eine Theorie des Lehrens, sondern als eine des Wissens und Erkennens. Hattie denkt sein Konzept des „sichtbaren Lernens“ als Kombination lehrer- und schülerzentrierten Lernens und bedauert, dass beide Prinzipien allzu oft gegeneinander ausgespielt werden. Da ihm der konstruktivistische Ansatz dabei zu übermächtig und moralisierend vertreten wird (Direkte Instruktion ist schlecht, Konstruktivismus ist gut), nimmt er verstärkt die Position eines Verteidigers direktiver Formen ein, obwohl auch er nicht zum alten Frontalunterricht zurück will. (Hattie 2013, 31f.) ↩
- Eine Effektstärke als schwach, mittel oder stark zu bezeichnen, hängt stark vom Untersuchungsgegenstand ab. Um sich nicht der Gefahr auszusetzen, schon geringste Effekte als positives Ergebnis zu analysieren, legt Hattie den „Umschlagpunkt“, ab dem er von einer „übergroßen Lernleistung“ spricht auf 0,40; ab 0,60 spricht er von „exzellent“. Der Umschlagpunkt 0,40 ist ein Durchschnittswert und es ist nicht auszuschließen, dass in manchen Bereichen auch schon niedrigere Werte beachtlich sind oder in anderen höhere selbstverständlich. Er sollte als Richtwert für Diskussionen gelten. (Hattie 2013, 19ff.) Köller weist darauf hin, dass in der Sekundarstufe I ein Jahr Unterricht einer Effektstärke von ca. 0,40-0,50 entspricht. (Köller 2012) Gerade bei Meta- und Meta-Meta-Studien steigt der Anspruch an ein signifikantes Ergebnis weiter, so dass auch Effektstärken von 0,2 durchaus beachtlich sein können. ↩
- Hattie untersucht nur den rein fachlichen Lernerfolg und unterscheidet dabei nicht Fächer, Schulformen, Altersgruppen, kulturelle Hintergründe etc. Auch können viele Faktoren unterschiedlich ausgelegt bzw. umgesetzt werden. Obwohl dies suggeriert wird, kann man aus der Effektstärke keinerlei Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ableiten bzw. dass die Einführung oder Erhöhung einer bestimmte Maßnahme einen bestimmten Erfolg bringt, denn sie kann z.B. zur Vernachlässigung anderer Faktoren führen. Auch ein Ranking, wie es Hattie vornimmt, ist irreführend. ↩
- Hattie spricht hier nur vom Konzept der „direkten Instruktion“ nach Adams und Engelmann (1996), das er vollkommen vom gängigen „Frontalunterricht“ unterscheidet! „Lehrergeleiteter Unterricht“ ist u.U. eine irreführende Übersetzung. (Hattie 2013, 242f.f.) ↩
- Die ganze Konstruktivismusdebatte einschl. der Veränderung in den Fächern und der Entwicklung von Unterrichtskonzepten, die Allgemein- und Fachdidaktik umfassen, setzte in Deutschland erst richtig Mitte der 90er Jahre ein. Die wichtigsten wissenschaftlich evaluierten Theorie und Praxis verbindenden Veröffentlichungen finden sich nach dem Jahr 2000, sie haben nicht viel mit den ersten „Programmen“ bzw. Öffnungsversuchen der 60er und 70er Jahre zu tun. ↩
- Dies wird auch von den Durchführenden der Studien betont: „one reason for the variability in outcomes associated with open education ist that ‚open education‘ does not uniquely define a treatment.“ (Giaconia/ Hedges 1982, 580). Deutsche Wissenschaftler wiesen schon kurz nach der Veröffentlichung der bekannten Studie „Teaching Style and Pupil Progress“ von Bennett (1977) darauf hin: „Nur 17 Prozent der befragten Lehrer praktizierten offenen Unterricht in der definierten extremen Form“ (Kunert 1978, 155). „Einschränkend ist zu Bennetts Studie anzumerken, daß viele Lehrer der Gruppe ‚informeller Lehrstil’ wohl eher einen ‚Laissez-faire-Stil’ bevorzugten“ (Einsiedler 1990, 228). Von materialzentriert bis laissez-faire war alles vertreten (übrigens auch die beste der untersuchten Klassen …). Die Forschergruppe um Bennett hat die Ergebnisse ihrer Studie später revidiert. ↩
- Auf die bei Hattie z.T. nicht stimmige Interpretation bzw. Zuordnung von Einzelfaktoren eher zu lehrerzentrierten Formen (Lehrer als „activator“) als zu offenen Formen (Lehrer als „facilitator“) weisen verschiedene Autoren hin (Brügelmann 2013; Rolff 2013; Steffens/Höfer 2013, 12ff.) ↩
- In Klassen mit personenzentrierten Lehrpersonen gibt es mehr Engagement und mehr Respekt untereinander, sodass seltener aufsässiges Verhalten auftritt. Zudem lassen sich vermehrt offene Lernsituationen (von Lernenden angeregt und reguliert) feststellen, ebenso wie höhere Leistungs-Outcomes. (Hattie 2013, 143) ↩
- Felten, der zurzeit wohl bekannteste Praktiker eines Frontalunterrichts beschreibt seine Erfahrung mit Offenem Unterricht so: „Allerdings wird das Freie und Offene im real existierenden Alltag schnell zur Farce – statt Klassengespräch werden Arbeitsblätter aufgetürmt, statt Lehrer-Schüler-Beziehung dominiert Papiersteuerung.“ (Felten 2011)
Diese Umsetzung kann einen wirklich den Frontalunterricht zurückwünschen lassen … ↩ - Diese Rollenanforderung auf der Basis der gesicherten Grundrechte der Kinder hat maßgeblich mit einer sich seit den 60er Jahren stark veränderten Kindheit zu tun – das Hauptproblem stellen nicht mehr zu autoritäre Eltern da, sondern im Hinblick auf Erziehung völlig verunsicherte Eltern – und Lebensbedingungen, in denen die (berufstätigen) Eltern im Gegensatz zu Schule und Peer-Group immer weniger Raum einnehmen. Von daher sind verlässliche und positive Bindungsbeziehungen gerade im schulischen Bereich unabdingbar geworden. ↩
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